DIE AUSLIEFERUNG
L' EXTRADITION
Spielfilm
Schweiz 1974
90 Min s/w, 35mm und 16mm
Originalversion d/f
Untertitel d/f/e
Der russische Anarchist Sergej Njetschajew
flieht in die neutrale Schweiz. Aus Rücksicht auf die Handelsbeziehungen mit dem Zarenregime
wird er ausgeliefert.
Im Jahr 1870 entkommt der in Russland wegen Anstiftung zum politischen Mord gesuchte Revolutionär Sergej Njetschajew (Roger Jendly) in die Schweiz und versucht hier die polnische und russische Emigrantenszene und insbesondere die attraktive Nathalie Herzen (Anne Wiazemsky) für seine Ziele einzuspannen.
Seine Intrigen führen zu einem Zerwürfnis zwischen den Emigranten verschiedenster politischer Prägung, zwischen Michael Bakunin (William Jacques) und der Sozialistischen Internationalen. In der Schweiz entwickelt sich eine polemische Diskussion: ist Njetschajew ein gewöhnlicher Verbrecher, den man der Russischen Regierung ausliefern soll, wie dies die zaristischen Behörden fordern, oder ist er ein politisch Verfolgter, dem man das Asylrecht geben soll.
Drehbuch Regie Schnitt Peter von Gunten
Französische Dialoge Claude Frochaux Monica Iseli
Kamera Fritz E. Maeder
Ton Jean-Daniel Bloesch
Regie- und Schnittassistenz Marlies Graf
Musik Josef Ivanovici Wladimir Rebikoff
Musikalische Leitung u. Bearbeitung Jiri Ruzicka
Solist am Flügel Eugen Huber - Frédéric Chopin
Roger Jendly Sergej Njetschajew
Anne Wiazemsky Nathalie Herzen
Silvia Jost Albertine
Berhard Arczynski Ogarev
William Jacques Bakounin
FESTIVALS UND AUSZEICHNUNGEN Auswahl
Festival internat. du Film Cannes Quinzaine des Réalisateur
Berlin Forum des jungen Films Festival internat. du Film de Droits de l’Homme Strassbourg 1. Preis
Festival internat. del Film Locarno Wettbewerb Mension Biennale Venedig Edinburgh International Film Festival Los Angeles Film Festival Montreal World Film Festival Perth International Film Festival AUS
Moscow International Film Festival Festival Internacional de Cortometrajes y Cine Alternativo de Benalmádena SP
Filmfestival Figuera da Foz P Rencontre internationale du Jeune Cinéma Brüssel Adelaide Film Festival A
Solothurner Filmtage BAK Bundesamt für Kultur Qualitätspräm
HINTERGRUND
Im Spielfilmdebut von Peter von Gunten dreht sich alles um die authentische Figur des russischen Anarchisten Sergej Njetschajew (Roger Jendly), eines Weggenossen Bakunins (William Jacques) und eine der zentralen Figuren im Roman Die Dämonen von Fjodor M. Dostojewskij. Angeregt zu diesem Filmstoff wurde der Autor durch Die Bären von Bern und der Bär von Petersburg von Michail Bakunin. Link
Njetschajew flüchtet wegen einer Beteiligung an einem politischen Mord in die Schweiz und setzt auf die in der Eidgenossenschaft grosszügig gehandhabte Asylpolitik. Doch Njetschajew wird Opfer eines zwielichtigen Spiels zwischen dem zarischen Russland und der Schweiz.
Die Schweizer Regierung, von liberaler Tradition geprägt, verweigert vorerst, dem russischen Begehren Folge zu leisten. Erst als der Bundesrat durch einen konservativen Justizdirektor ergänzt wird, zögert die Schweiz nicht lange, durch einen von Russland angebotenen Handelsvertrag geködert, die Verhaftung des in Zürich untergekommenen Njetschajews voranzutreiben und ihn schnell auszuliefern.
Der Film, historisch bis ins Detail recherchiert, wird zum Statement einer kritischen helvetischen Selbstbefragung. 'Sergej Njetschajew', dieser in seinem Verhalten und Denken zwiespältige Mensch, hat mich interessiert' sagt der Autor, 'nicht weil er eine zu idealisierende Person wäre, sondern weil er die Schweizer Regierung zu einem für sie typischen und entlarvenden Verhalten provoziert hat, die regelmässig wirtschaftliche Interessen vor humanitäres Handeln stellt.' Njetschajew, nicht wie von Russland garantiert, wurde nach derAuslieferung nicht als gewöhnlicher Verbrecher eingesperrt. Er verschwand in der für politische Gefangene reservierten Peter und Pauls Festung in St. Petersburg und starb zehn Jahre an den Folgen von Unterernährung.
FILMKRITIK
ALS ERSTLING EIN GLÜCKSFALL
«Es ist ein Glücksfall, wenn ein Erstlingsfilm das wiederzugeben vermag, was sein Autor an Wünschen und Hoffnungen an ihn herangetragen hat. Die Auslieferung ist nach vier Kurzfilmen, der erste Spielfilm des Schweizers Peter von Gunten. In ihm ist auf klare, überzeugende Art das lesbar geworden, was sich der Autor von seinem Film versprochen hat. (...) Eine kritische Schweizer Selbstbefragung also an Hand eines besonders kennzeichnenden historischen Falls. (...) Der ganze Film ist konzentrisch gebaut. Je eine Reise Njetschajews begrenzt die Handlung; am Anfang die freiwillige Abreise aus Russland in der Ursache der ganzen Bewegungen: den Mord an dem Studenten; ein Nachspann konfrontiert mit den Folgen: dem Vertragsabschluss.
Der Film ist - was wohl nur in der Schweiz zu machen war - konsequent zweisprachig gedreht. Schon durch diese Polarisierung wird die Spielfilmglätte aufgerauht. Alle Bilder atmen Gefängnisenge, sind dicht an den Personen. Ein fast lithographischer Grauton bildet den melancholischen Grund für die aneinender vorbei kreisenden Bewegungen der Hauptfiguren. Musik wird nicht vertan um Emotionen zu züchten oder Bilder zu lackieren. Peter von Gunten enthält sich aller Aufputschversuche, aller zudringlichen Stellungsnahmen, er referiert pointiert und zwingt so den Zuschauer, selber Stellung zu beziehen. Er macht der Historie einen fairen Prozess. Ihm dabei als Geschworener im
Kinosaal zuzuhören, ist ein eigentümlich lohnendes Erlebnis.» (G. Knapp, Süddeutsche Zeitung, 3.11.1974)
«Von Guntens Film schildert die Ereignisse, wie sie sich während Njetschajews Aufenthalt in der Schweiz abgespielt hatten. Vordergründig wird also die kühle Geschichte eines Anarchisten gezeigt, der sich vergeblich um Asyl bemüht, einer fragwürdigen politischen Entscheidung zum Opfer fällt und sich schliesslich auch noch von einem polnischen Emigranten gemein verraten sieht. Ein durch und durch historischer Film also? Gewiss auch. (...) Der Ausblick auf ein trübes Stück schweizerischer Asylpolitik ist über den geschichtlichen Anlass hinaus interessant. Er ist durchaus in einen gegenwärtigen Zusammenhang zu stellen: Am Beispiel Njetschajews, für den schon 1872 das Boot voll war, weil es die augenblicklichen wirtschaftlichen Interessen vermeintlich so erfordeten, wird die Asylpolitik der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs gegenüber den Juden und 1974 gegenüber den Chilenen verständlich, wenn auch nicht entschuldbar.
Gerade in der Schlichtheit, mit der von Gunten dies durchschaubar macht, liegt die Unausweichlichkeit seiner Aussage. Sie gestattet keine Flucht hinter den Vorwurf einseitiger ideologischer Stimmungsmache. (...) Gewisse Dinge beim Namen zu nennen, scheut sich Peter von Gunten keineswegs. (...) Von Guntens Filme sind keine Fanale, die man bejubelt oder verdammt, sondern letztlich Grundlagen zu ernsthafter und vorerst wertfreier Auseinandersetzung. (...)
Die Auslieferung ist der erste Spielfilm eines jungen Autors in der deutschen Schweiz, der über die Zeit kommt, dessen Spannungsbogen - wobei hier Spannung als rein innerlicher Vorgang zu verstehen ist - nicht abbricht und in dem Form und Inhalt zu einer überzeugenden und belegbaren Einheit verwoben sind. Dass Peter von Gunten dies ausgerechnet mit einem Film gelungen ist, der allein schon von der historischen Komplexität, dann aber auch von der Vielzahl der eizuführenden Personen wie auch der Drehorte hohe Anforderungen stellt, ist erstaunlich. Die Ursache des Gelingens liegt meines Erachtens in der absoluten Beherrschtheit der Inszenierung, der kompromisslosen Sachlichkeit und der überlegenen Beschränkung auf das Wesentliche.»
(Urs A. Jaeggi, ZOOM-Filmberater, Nr. 4/1974)
WEITERE PRODUKTIONSANGABEN
CAST
Gilbert Costa Lapatin
Gérard Despierre Cerniecki
Pierre Holdener Mecnikov
Claude Yersin Alexandre Herzen jun.
Paul Psquier Camperio Chef de police
Bernard Junod Rosch Commissaire de police
Gunter Gube Giers Russischer Botschafter
Werner Schnitzer Russischer Spion
Felix Klee Russischer Zeuge
Albert Tital Russischer Zeuge
Wolfgang Hiller Kolychkin Staatsrat
Alfons Hoffmann Gortchacow Russischer Botschafter
Urs Bihler Ralli
Klaus W. Leonhard Stempkowsi
Peter Simonischek Sebrennikov
Rainer zur Linde Turski
Alex Freihart Pfenninger Polizeikommandant
Erwin Kohlung Bundesrat
Rudolf Ruf Bundesrat
Erich Schaade Bundesrat
Amido Hoffmann Staatsschreiber
Heinz Jost Staatsschreiber
CREW