VOZES DA ALMA
STIMMEN DER SEELE
Dokumentarfilm 1986
Schweiz Brasilien 180 Min. 16 mm, f
Kino-Version 120 Min. TV-Version 100 Min.
Link zum Film als Download auf LORY der Universität Luzern
Mae Gil, Priesterin eines Afrobrasilianischen Terreiro (Kult-
und Wohnhaus) in der Nähe von Recife Brasilien, ist eine starke Persönlichkeit mit grosser Ausstrahlungskraft und sie setzt sich auf einer intensiven, spirituellen Ebene mit den Mitgliedern ihrer Gemeinde auseinander und führt diese durch ihr tägliches Leben.
Der Film begleitet Mae Gil in ihrer täglichen Arbeit als geistige Autorität und gibt ungefiltert tiefen Einblick in die Candomblés, die religiösen Kulte und Feste, in denen alle Grenzen zwischen christlichem Glauben und Afrikanischer Religion verwischen. Er zeigt alle alltäglichen Bereiche des Lebens, die durch die Ausübung der Religion fliessend ineinander übergehen: Arbeit, soziales Lebens, religiöse Kulte und Feste, rituelle Heilungen, spirituelle Beratungen, die kulturelle Breite der afro-brasilianischen Kultur. Diese manifestiert sich auch in den Beratungen in Themen, mit denen die Menschen durch die sozialen Herausforderungen und die grossen gesellschaftlichen Widersprüche in denen sie stecken, konfrontiert sind.
Buch Regie Kamera Schnitt Peter von Gunten
Regieassistenz, Inhaltliche Begleitung bei Recherchen und Buch, Marian Zaugg
Ton Pavol Jasovsky
Musik Afro-brasilienische Ritualmusik und Samba
Produktionsleitung und Übersetzung Brasilien Marianne Farah p/d José Roberto Silvestre ketu/p
CAST
Mâe de-Santo Gil (Gilvanete Jannete Darnela Da Silva) Pai de Santo Roberto (José Roberto Silvestre)
Befreundete Mae-de-Santo Pae de-Santo
Trommel Ariberto Gonçalves DaSilva Maria Solange do Nascimento
Gäste Candomblè und religiösen Feiern Mâe de Santo und Pae de Santo
Besucherinnen und Besucher des Terreiros de Candomblè Filhas Filhos
FESTIVALS UND AUSZEICHNUNGEN
Festival international del Film Locarno Festival international del Film Figueira da Foz
Filmfest München Viennale Wien Solothurner Filmtage
BAK Bundesamt für Kultur Prämie
HINTERGRUND
Mittelpunkt des Films VOZES DA ALMA ist die Mâe de Santo GIL Gilvanete Jannete Darnela Da Silva, eine Priesterin und Heilerin der afro-brasilianischen Religionsgemeinschaft, die seit den 70er Jahren als synkretistische, afrikanisch-christliche Religion Brasiliens offiziell anerkannt ist. Das Kult- und Wohnhaus (Terreiro de Candomblé) von Mâe Gil liegt nicht weit von Recife, nahe am Meer, in einem Gebiet, das bis vor kurzem kaum oder nur durch Slums besiedelt war. Der nahe Strand und der unaufhaltsame Ausbau des Nobelquartiers 'Boa Viagem' führt dazu, dass die Slumbewohner durch die Überbauung von Wohnblocks, Villen und Hotels verdrängt werden.
Als die portugiesischen Kolonialherren erkannten, dass die afrikanischen Sklaven, die mehrheitlich aus Nigeria (Yorubas), und Angola stammten, nicht davon abzubringen waren, ihre afrikanischen Religionsrituale und insbesondere auch ihre Kultur im Verborgenen weiter zu leben, liessen sie davon ab, ihnen dies zu verbieten. Die Grossgrundbesitzer der Zucker- und Kaffeeplantagen stellten fest, dass die Sklaven williger arbeiteten wenn sie ihre Bräuche und Religion ausüben konnten.
Die katholischen Missionare stellten sich dagegen, doch die Afrikaner fanden in Ihren Göttern und Geistern Parallelen zur christlichen Religion und es gelang ihnen, hinter den Namen des katholischen Gottes und der Heiligen die eigenen Götter, Heiligen und Geister zu verstecken. So findet sich in jeder Namensnennung im Katholischen eine sinngemässe Nennung eines afrobrailianischen Gottes oder Geistes.
Daraus entstand eine Synthese aus arikanischer, indianischer und europäischer Religion, der brasilianische Synkretismus. Dazu zählen Candomblé, dessen Hauptverbreitungsgebiet an der Südostküste liegt, die Xangô-Kulte in Nordostbrasilien, Batuque im Südosten und das spiritistisch beeinflusste Umbanda.
Bis in die dreissiger Jahre des letzten Jahrhunderts wurde der Herkunft dieses breit praktizierten Phänomens wenig Beachtung geschenkt. Als im Laufe des letzten Jahrhunderts Ethnologen und Sprachforscher begannen, die Gemeinsamkeiten mit afrikanischen Kulten und Religionen zu erforschen, insbesondere auch der Ursprung der verwendeten Namen und Sprachelemente, wurde erst der ganze Umfang der kulturellen Verwandtschaft erkannt.«
»Die afrobrasilianischen Religionen bilden in ihrer irdischen Kosmologie eine rituelle Familie, die mit ihrer Zugehörigkeit zu den jeweiligen 'Orixas/ Santos/ Guias' (Götter, Geister und geistige Führer) verbunden ist. Der Gemeinde steht eine Mutter vor: 'Babalorixa, Lalorixa oder Mae-de-Santo' genannt und/oder ein Vater, genannt 'Babaladé oder
Pai-de-Santo'. Darunter stehen die Initierten, die 'Jaé' oder 'Filhas- und Filhos deSanto'. In dieser familiären Verbindung finde wir zahlreiche andere 'Verwandte', die unterschiedliche Funktionen innerhalb und ausserhalb der kultischen Gemeinschaft besitzen. Mit den Gottheiten (Heiligen und Geistern) in Kontakt zu treten (im rituellen Tanz) und eins mit ihnen zu werden, gibt den afrobrasilianischen Gläubigen Stärke und beinahe (übernatürliche) Macht.«
(Auszug aus: Kleines Lexikon der Afrobrasilianistik, Chirly dos Santos-Stubbe, Hannes Stubbe, Vandenhoeck & Ruprecht 2014, in Klammer Anmerkungen des Filmautors)
In den achziger Jahren wurde die Afrobrasiliansiche Religion durch den brasilianischen Staat offiziell anerkannt.
FILMKRITIK
»Peter von Gunten hat sich ausserhalb aller Routine gestellt, hat filmisches Neuland betreten (...) Ohne jegliche Distanz filmt Peter von Gunten das Wirken der Priesterin und Heilerin einer afrobrasillansischen Religionsgemeinschaft am Rand der Stadt Recife, lässt sich auf ihre spiritistischen Sitzungen, ihre Heilungs- und Beratungstätigkeit ein. Die Kamera mischt sich unter die Zelebranten religiöser Kulte und Feste, saugt sich voll mit Bildern vom Mysterium einer Religion, die zwischen christlichem Glauben, Marien- und Heiligenverehrung und Animismus alle Grenzen verwischt. Dem Rhythmus des Sambas, der sowohl Ausdruck des Lebensgefühls, wie auch Beschwörung und Gebet ist, folgt der Film bis in die Trance.« (Urs Jaeggi, Zoom)
»Der Film enthält sich jeglichen Kommentars. Nach Filmen wie 'Terra Roubada' oder 'Bananera Libertad', die die Ausbeutung der Dritten Welt beklagten, findet Peter von Gunten zu einer Thematik, die Vorsicht und Sensibilität fordert. Die vorgestellten Phänomene entziehen sich einer Erklärung und bedürfen einer Dramaturgie, die aufs Vermitteln, Informieren oder Beweisen verzichtet. Die Bildfolge von VOZES DA ALMA gibt dem Betrachter Gelegenheit zur selbstständigen Meinungsbildung. Es ist von Interesse, dass dieser Film eines einst engagiert gegen die Ausbeutung agierenden Filmemachers, der Magie und dem Okkulten gewidmet ist.«
(Aus: Zentrale Filmografie Politische Bildung, Band VI, 1990, Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH)
Empfindsam für das Andere:
»Samstag morgen, draussen hechelt die Stadt unter dem Wochenendansturm, während ich im Innern einer der guckkasten- artigen Kultstätten unserer Zivilisation sitze, in Erwartung einer luminösen Erscheinung: von Guntens jüngster Film. Ich weiss, dass er von einem Medium handelt, das mit den Geistern Verstorbener in Kontakt steht. Ein ethnographisches Dokument, das vielleicht wie frühere Arbeiten dieses Autors anhand verschwindender Lebensformen und des Schicksals der Dritten Welt die imperialistischen Zerstörungsmechanismen unserer eigenen, aufgeklärten Lebensweise kritisiert. Als 'Bilanz fünfzehnjähriger Filmarbeit in Lateinamerika' betrachtet der Berner Peter von Gunten seinen Dokumentarfilm 'Stimmen der Seele'.
Da belebt sich die Leinwand, und ich tauche ein in den Bannkreis, den Mae Gil und ihre Lebensgemeinschaft um mich ziehen.
Körper der Geister
Es sind Bewohnern aus einem Armenviertei am Rande von Recife und sie sind Abkömmlinge der während der Kolonialzeit als Sklaven deportierten Afrikaner (...) Mae Gil ist Inhaberin eines Terreiros, einer afro-brasilianischen Kultstätte. Sie ist verantwortlich für das spirituelle, individuelle und materielle Leben der Bewohner der umliegenden Hütten. Als Priesterin muss sie sich die Gunst der Götter und Geister bewahren, dazu gehören auch die Veranstaltung ritueller Feste. Diese zeigen sich ihrerseits dafür erkenntlich, wenn es Leute zu heilen oder Konflikte zu schlichten gilt. Mae Gil ist in solchen Fällen das Medium, das den Stimmen der Seelen für ihr Erscheinen, die Inkorporation, ihren Körper leiht.
Filmteam als Medium
Bei der Wiedergabe solcher Seancen wie überhaupt im ganzen Film scheinen sich von Gunten und Marian Zaugg (Co-Autorin und Regieassistentin) in den Alltagsszenen rücksichtsvoll hinter die Kamera zurückgezogen zu haben, um alles weitere der Kultgemeinschaft rund um die dominante Frauengestalt zu überlassen. Wenn sich die Seelen der Verstorbenen in den Kultfesten in den Priesterinnen und Filhas (Initierten) inkorporieren, so wird die Kameraführung ungefiltert und direkt in die afro-brasilianischen Rituale integriert und ihr Vorhandensein wird nicht mehr wahrgenommen.
Mae Gil und ihre Filhas übernehmen die Regie, sie befragen ihre Geister, diese bestimmen mit ob sie gefilmt werden dürfen. So ist 'Stimmen der Seele' eigentlich ihn Werk, das im Schweizer Fiimteam sein Medium gefunden hat, um sich uns hier mitzuteilen. Das deckt sich mit ihrer eigenen Interpretation: 'Dona Paulina (Geist einer verstorbenen Prostituierten) war es, die Euch zu mir geführt hat, ihr seid nicht gekommen, sondern sie hat Euch gebracht'.
Verzicht auf Vergleiche
(...) Nachdem von Gunten in seinen früheren Lateinamerika-Produktionen eher Filme über die Weit, aus der er selber stamme, gemacht habe, sei er diesmal, so sagte er, mit einer anderen Einstellung an die Leute herangegangen. Bewusst suche er nicht Vergleiche zwischen unserer Welt und der anderen.«
(Matthias Rüttimann, Berner Zeitung)
ANMERKUNG DES AUTORS
In seinem Buch 'Der Fremde bin ich selber' schreibt Aurel Schmid: »Reisend erfahre ich die fremden, aber nicht gelebten Lebensmöglichkeiten, wenigstens eine Spur davon und genug, um über den Zaun hinaus zu sehen. Warum schleppen wir dieses zufällige ICH mit uns herum und halten es für unser Selbst und fragen nicht, was es denn sonst noch für Möglichkeiten gibt?« ...
Ich gehe hin und versuche empfindsam zu sein für das was da Ist, als Erfahrung, nicht auf eine rationale Erklärung wartend. Eine Distanz zum Fremden liegt nicht zwingend in der Sache oder am oder im Film, die Distanz ist oft die fehlende eigene sinnliche Neugierde zum real vorhandenen. Diesen Film ordne ich der Gattung des Direkt Cinema / Cinéma verité zu. Die bewegte Kamera und der sychron aufgenommene Ton bewirken vorallem eins: das Ziel, die Wirklichkeit so abzubilden, wie sie ist. Das Drehbuch wird beim drehen und beim Schnitt geschrieben, mit dem, was sich vor den Augen abgespielt hat und nun dramaturgisch geordnet wird.
Mae Gil: »Ich freue mich, wenn du mit mir einen Film drehen willst. Du machst deine Arbeit und ich die meine, und falls es mich stört, jage ich dich fort!«
WEITERE PRODUKTIONSANGABEN
CAST
Alexandra Dornelas Chaves Fuca Barbara
Maria Louisa Da Conceição Angela Maria Ana Lucia Luisa Ferreira Da Silva Isabel
Mãe Jocefa Mãe Antonia Mãe Aldenice Pai Zitu Pai Ubiratan Pai João u.v.a.
CREW
Technische Mitarbeit Brasilien Jean-Pierre Juste Selina Ferreira di Santana Lourdes Jutzi Maria Lucia calvacanti
Antônio Carlos Gomes Remo Legnazzi
Technische Mitarbeit Schweiz Marieanne Marggraf Greti Kläy Hanne Ochsenbein Agathe Blaser u.v.a.
STUDIOTECHNIK
Bild Schwarz-Filmtechnik Bern Ostermundigen Lichtbestimmung Ruth Kägi
Tonstudio Sonor-Film, Mischung Ivan Seifert
PRODUKTION
CINOV AG Filmproduktion Bern
Eine Gemeinschaftsproduktion CINOV AG mit ZDF Zweites Deutsches Fernsehen Redaktion W. Hoffer, W. Schmandt
Produziert mit Beiträgen von
Helvetas Schweizer Zusammenarbeit für Entwicklung Zürich Arbeitsgemeinschaft Kirchlicher Entwicklungsdienst AGKED Stuttgart EDK Erziehungsdirektion Kanton Bern Evangelischer Mediendienst Bern Schweizer Fernsehen DRS
© PvG CINOV / SUISSIMAGE